Sep 13 • Paul Becker M.A., Hptm d.R.

Winkelfechter und Winkellehrer

"Wenn ein Blinder den anderen führt"
Vielleicht habt ihr schon einmal den Begriff "Winkeladvocat" gehört?  Der Duden erklärt den Begriff wie folgt:

"Anwalt, der [ohne rechtliche Befugnis] mit fragwürdigen Mitteln [ohne die erforderlichen Kenntnisse] arbeitet." [1]

Angeblich soll der Begriff im 19. Jahrhundert aufgekommen sein.  Der "Winkel" soll hier als Symbol der Heimlichkeit dienen, also darauf hinweisen dass diese Personen versteckt arbeiten. [2]

In meinen Recherchen bin ich nun mehrfach auf Äquivalente im Fechten gestoßen, welche ich bereits seit dem 15. Jahrhundert nachweisen kann. Daher möchte ich euch in diesem kurzen Artikel einige historische Beispiele aufzeigen.

WINKELSLEHRER MIT DEM SCHWERT

Bereits 1485 warnen die Marxbrüder den Rat der Stadt Nördlingen vor den "Winckelslerer(n) mit dem schwertt". [3] Diese würden die Kinder nicht richtig lehren und versorgen.  Die Meister des Schwerts als probierte Lehrer wollen damit ihre eigene Machtstellung ausbauen. Wie beim Winkeladvokaten wird also hier auch versucht Fechter, welche angeblich nicht ausreichend Kompetenzen mit sich bringen, zu diffamieren. Inwiefern diese Diffamierung auf tatsächlich fehlenden Kompetenzen beruht, lässt sich heute nicht mehr feststellen. 

Es zeigt sich, dass die Abwertung durch die Beschreibung "Winkel" auch unter den Fechtern und bereits im 15. Jahrhundert in Gebrauch war. Zudem wird hier auch der Kampf um das Recht zum Unterrichten deutlich, welches vorzugsweise dem fachlichen Ansehen der jeweiligen Vertreter dient, um in höhere Dienste etwa von Stand und Herren aufgenommen zu werden. 

WINKELFECHTER 1516

Der Wiener Freifechter Andre Paurnfeind, welcher 1516 das erste gedruckte Fechtbuch veröffentlichte, erwähnt dann erstmals die Winkelfechter.

"So du von ainem maister schwercz oder von ainem vermerten freifechter lerenst, und nit von den winckel fechteren als wan ain plinter den anderen furt und fallen ped in graben. "[4]

"Wenn du von einem Meister des Schwerts oder von einem vermehrten Freifechter lernst, und nicht von den Winkelfechtern, als wenn ein Blinder den anderen führt und beide in den Graben fallen." (Neuhochdeutsche Übersetzung vom Verfasser)

Ein gelungener Bildlicher Vergleich, in welchem der Winkelfechter mit einem Blinden Führer verglichen wird. Bezogen auf die Fechtkunst als wiederum ein Unwissender oder Nichtskönner, der beide, Lehrer und Schüler, ins Verderben reißt.  Auch hier werden die Meister des Schwerts und die Freifechter als die ausgebildeten Fachleute präsentiert. Passend habe ich auch das Titelbild "Blindensturz" zu diesem Artikel gewählt, welches von Pieter Bruegel dem Älteren aus dem Jahr 1568 stammt und sechs Blinde zeigt, die, an einander festhaltend, vom ersten geführt werden und stürzen. 

Der Text soll auch sein nachfolgendes Fechtbuch einordnen und legitimieren, welches er an die iungen schueler richtet und sie damit auch vor falschen Lehrern warnen will. 

Winkelfechter und Winkelschulen 1618 Wittenberg

Martin Krüger approbirter Meister des langen Schwerts von der Feder  war um 1618 bereits seit einigen Jahren der angestellte Fechtmeister der Universität Wittenberg, als er sich in einem Schreiben vom 15. April 1618 bei der Universitätsführung, als den Ehrenwürdige, Ehrenfeste, Achtbare, Hoch, und Wohlgelahrte Magnifice Domine Rector, Magistri, Doctores und Professores, großgünstige gebietende Herren beschwert, dass diese den kaiserlichen Privilegien in Bezug auf das Lehren der Fechtkunst nicht nachkämen.[5]  So habe er seit Jahren der Universität gut gedient. Er habe die Fechtkunst ehrlich gelernt, sei etliche Jahre umhergezogen, um sich die Kunst anzueignen und könne sein Testimonium (die Approbation) und die kaiserliche Ratifikation und Konfirmation vorlegen. Die Universität aber dulde, dass sich "allerhand Winkelfechter" hervortun und sich erlauben "Schule zu halten" und ehrliche Studenten unter dem Schein einer Meisterschaft unterrichten und an sich zeihen würden. Damit würden diese Winkelfechter sich Rechte anmaßen, die nur einem approbierten Meister zustehen, wie ihm etwa ihm, Martin Krüger. Weiterhin habe Krüger gemäß kaiserlicher Artikel die Pflicht, gegen diese vorzugehen.  
Dabei beschwert er sich besonders gegen einen "Sebastianus Mathesius", welcher täglich praktiziere und Schule halte und erinnert erneut daran, dass die kaiserlichen Hauptleute und Obmannen in den Artikeln bestätigen, "daß dergleichen Winkelnfechtern durchaus nicht nachgesehen, viel weniger geduldet, sondern ihnen solches von jeder Oerter verboten und geleget werden soll ".

Im Anschluss zählt Krüger weitere Artikel auf und fordert, dass Mathesius entweder innerhalb weniger Tage seinen Lehrbrief und seine Testimonii vorzulegen habe, also "wo und in welcher Gestalt er gefreiet und woher er sich dieses zu unterstehen befügt" und damit  "seiner Befreiung und Meisterscahft genügsam Anzeige thue".

Auch verweist er auf die übliche Vorgehensweise, wenn Krüger solche nicht vorzeigen könne. In diesem Fall habe Krüger die Möglichkeit den Mathesius auch zum Freifechter zu machen, indem dieser die Kunst bei ihm ablege und sich dann an die vorgeschriebenen Artikel halte. 

Sollte die Universität aber "dergleichen Winkelfechter" weiter diese Freiheiten gewähren, sei Krüger gezwungen dies am Hofe in Dresden anzuzeigen, "damit sich einer leichtlich Winkelschulen anzustellen, insinuieren und einzuschleichen wird unterstehen".

1619 kam es zu einem einem weiteren Streit. Im diesem klagte ein Georg Albrecht, welcher sich als Fechtmeister, Tanzmeister und Barbier ausgab, vor der Universität und schließlich auch vor dem sächsischen Kurfürsten wegen diverser Punkte, vorzugsweise aber Beleidigung, besagten Meister Martin Krüger an. Albrecht war wohl auf Krügers Dienstposten aus, weshalb im Verlauf des Verfahrens auch nach der Rechtmäßigkeit der Meistertitel beider Personen gefragt wurde. Krüger konnte wie in seinem Schreiben von 1618 angegeben, seinen Lehrbrief und die Approbationen vorlegen. Albrecht hingegen nicht. So wurde der Fall zugunsten Krügers entschieden. [6]
  
In dem von mir genutzten Artikel zu Martin Krüger, legt der Verfasser auch eine Transkription der Artikel der approbierten Meister des langen Schwerts von der vom Jahr 1615 zu Prag bei. Tatsächlich werden auch in diesen Artikeln die Winkelfechter erwähnt. 

"Wenn ein Meister des langen Schwerts in eine Stadt kommt oder wohnt,
und wie es sich oft vor der Zeit begeben hat, daß etzliche Fechter sich unterstanden haben
Schüler zu lehren, oft selber nicht gefreihet gewesen, so soll dieser Meister des langen
Schwerts Macht haben, ihnen solchen Winkelfechtern das Fechten niederzulegen oder aber
sie sollen sich von vorbenanntem Meister des langen Schwerts lassen zu einem Freifechter
machen [...]." [7]

1713 Johann Andreas Schmidt

Auch der bekannte Fechtmeister und Autor Johann Andres Schmidt (+1749) erwähnt die Winkelfechter in seinen 3 erhaltenen Fechtbüchern.[8] 

"Was das Fechten heutiges Tages so verachtet und verhasset machet/ ist die Ursache/daß sich hin und wieder so viele ungeschickte Winckel Fechter einschleichen / die sich nicht entblöden /jungen Leuten Lection zu geben/ da sie doch öffters nicht verstehen/wie sie eine Postur machen/und das Rappier anfassen solten. Durch solche unzeitige Früchte aber / die sie mit ihrem ungeschickten informiren/ aufziehen/ verderben sie andern den Appetit, wann man nemlich sihet/wie die übel beschaffene Scholaren aus blosser Einbildung und für überhäuffter Courage einen Handel nach dem andern anstellen/ und gemeiniglich mit Blut besüdelt heimlauffen: dahat dann das Fechten alle Schuld auf sich/und man urtheilet so unbesonnen davon/daß ich/die Schwachheit unterzudrucken/ ein mehrers nicht davon erwehnen magssondern das übrige vernünfftigern Gemüthern zu überlegen anheim stelle."[9]

Schmidt sieht in den Winkelfechtern demnach die Ursache für ein Schlechtes Ansehen der Fechtkunst, indem diese schlechten Lehrer, Fechter ausbilden, die kein Können aber dafür ein schlechtes Benehmen haben, eingebildet sind und schließlich blutige Kämpfe austragen. 
Selbstbildnis Schmidts in seinen Fechtbüchern

WINKELFECHTERN 1849

Der Begriff Winkelfechter war jedoch noch weitaus länger im Gebrauch. Noch 1849 nutzt Friedrich August Wilhelm Ludwig Roux in seinem Buch zur Kreusslerschen Stoßfechtschule den Begriff Winkelfechter. In seinem in Jena im Mai 1849 verfassten Vorwort schreibt er dazu:

"Aus allem Diesem erhellt wohl deutlich der Beweis, dass es nothwendig für den Deutschen werden dürfte, in Zukunft mehr auf Vertheidigung als auf unnützen Prunk zu geben. Der Staat würde wohlthun, die edle deutsche Fechtkunst zu heben und gediegene Fechtmeister bei allen Cavallerie- und Infanterie-Regimentern, sowie an Cadettenschulen und Universitäten anzustellen, dieselben aber von erprobten Lehrern ausbilden zu lassen. Geschieht dies, dann werden auch die Winkelfechter, Stümper, Pfuscher und Naturalisten immer mehr und mehr verschwinden."[10]

Fechtlehrer B. Weiland 1885

Weiland war nach eigener Angabe Fechtlehrer in Wiesbaden. Er verfasste sein "Praktisches Handbuch der Fechtkunst" 1885. Auch er nutz den Begriff Winkelfechter als Diffamierung und scheint dabei Bezug zu Schmidt 1713 zu nehmen, indem er auch von "nicht entblöden" spricht. 

1. "Aber lieber Leser! wo findet man solche Lehrer, die ihre Schüler durch eigene Praxis und Erfahrung dahin bringen können? Sie sind sehr vereinzelt! — wohl aber gibt es eine Masse Winkelfechter, Naturalisten und Renommisten, die sich nicht entblöden zu jungen Leuten einzuschleichen und Lektionen zu geben, welche sie selbst nicht verstehen, sogar oft nicht einmal wissen, wie sie überhaupt eine Waffe richtig anfassen sollen"[11]

2. "Selbstverständlich müssen solche Hülfsbücher von tüchtigen Autoren geschrieben sein, Winkelfechter können sich natürlich nicht an eine Herausgabe wagen, weshalb auch von der großen Mehrzahl derselben selbst gegen die besten Werke der edlen Fechtkunst demonstriert und der vorhandene Krebsschaden herbeigeführt wird; ihre Schüler werden von allen geschriebenen Hülfsmitteln ferngehalten, nur durch ihre Winkelfechterei glauben sie sich Lorbeeren zu erringen."[12]

3. "Diejenigen, welche vom Fechten keine Liebhaber sind, seien es vorerwähnte Winkelfechter, oder auch solche, welche gar eine Sünde daraus machen, werden nicht ermangeln, mein Unternehmen eine Bemühung zu nennen, welche keines besonderen Dankes würdig sei, in der Meinung vielleicht, daß dadurch tollkühne Gemüter und Waghälse Anlaß bekämen, manche unnüße Händel anzufangen, wobei gefährliche Wunden, wenn nicht gar Mord und Totschlag entstehen könnten." [13]

Zusammenfassung

Die Begriffe Winkelfechter, Winkellehrer, Winkelfechterei oder Winkelschulen haben also eine lange Geschichte, welche bis in die Anfänge der Verschriftlichung der Fechtkunst im 15. Jahrhundert und die Institutionalisierung der Approbation zurückreicht. Allein anhand meiner hier präsentierten Beispiele ergibt sich ein Zeitraum von 500 Jahren (1485-1885), in welchem diese Begriffe gebraucht wurden. Ziel des Gebrauchs war die Diffamierung und Abwertung jener Fechter und Möchtegern-Meister, die ohne die entsprechende Ausbildung, Approbation durch andere Meister und, zumindest bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches 1806, auch der entsprechenden kaiserlichen Privilegien entbehrten.

Der Begriff zeigt, dass schon lange ein Konkurrenzkampf um das Vorrecht des Lehrens in den Städten herrschte. Es zeigt sich aber auch, dass bereits oder spätesten im 15. Jahrhundert Meister begannen mit "Lob" und "Approbation" eine Art Institutionalisierung und Qualitätssicherung einzuführen, die für eine Struktur mit klaren Hierarchien und Abläufen und damit auch für Sicherheit in Rechten und sozialen Abläufen in den Städten sorgte. 

Weitere Forschungen auf diesem Gebiet könnten eventuell mehr Beispiele für Streitigkeiten hervorbringen, welche wiederum Details beinhalten, die uns auch die Kultur der approbierten und privilegierten Meister näher bringen und uns helfen das Bild der zeitgenössischen Fechtkultur weiter zu zeichnen.  

Anmerkungen

[1] Dudenartikel zum Winkeladvokat abgerufen am 01.09.2024 auf https://www.duden.de/rechtschreibung/Winkeladvokat.
[2] Sprachaufklärer.ch Artikel zum Winkeladvokat abgerufen am 01.09.2024 https://www.duden.de/rechtschreibung/Winkeladvokat.
[3] Stadtarchiv Nördlingen, Missiven 1485, p. 330. Abgerufen am 01.09.2024 auf http://www.frankfurter-fechtschule.de/2018/08/09/1485-an-den-rat-der-stadt-nuernberg-sendschreiben-fuer-hans-weltz/
[4]  Paurenfeindt, Andre: Ergrundung Ritterlicher kunst der fechterey [...], Wien 1516, fol. A1 v.. Vgl. Wiktenauer abgerufen am 01.09.2024 auf https://wiktenauer.com/wiki/Page:Ergrundung_Ritterlicher_Kunst_der_Fechterey_(Andre_Paurenfeyndt)_1516.pdf/8.
[5] L.S. : Meister Martin Krüger in Wittenberg. Ein Beitrag zur Geschichte der Gesellschaft des langen Schwerts von der Feder, in: Neue Mitteilungen aus dem Gebiete historisch-antiquarischer Forschungen
(Band 4), Halle 1838, S. 81 ff.
[6] Ebenda.
[7] Ebenda Beilage No. 4. .
[8]Vgl. zu Johann Andreas Schmidt: Schäfer, Jan: Der Fecht- und Exercitienmeister Johann Andreas Schmidt abgerufen am 01.09.2024 auf http://fechtgeschichte.blogspot.com/2011/10/der-fecht-und-exercitienmeister-johann.html.
[9] Johann Andreas Schmidt: Leib-beschirmende und Feinden Trotz-bietende Fecht-Kunst,  Nürnberg, 1713 S. XX3
[10]  Roux, Friedrich August Wilhelm Ludwig: Die Kreussler'sche Stossfechtschule, Jena 1849, S. XI.
[11] Weiland, B. : Praktisches Handbuch der Fechtkunst, Wiesbaden 1885, S. 207 f. .
[12] Ebenda.
[13] Ebenda.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 01: Pieter Bruegel der Ältere: Gemälde „Blindensturz“ aus dem Jahre 1568, Museo Nazionale di Capodimonte, abgerufen am 15.09.2024 auf https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Blindensturz#/media/Datei:%D0%9F%D1%80%D0%B8%D1%82%D1%87%D0%B0_%D0%BE_%D1%81%D0%BB%D0%B5%D0%BF%D1%8B%D1%85.jpeg
Abb. 02: Paurenfeindt, Andre: Ergrundung Ritterlicher kunst der fechterey [...], Wien 1516, Titelseite abgerufen am 16.09.2024 auf https://wiktenauer.com/wiki/Ergrundung_Ritterlicher_Kunst_der_Fechterey_(Andre_Paurenfeyndt)#/media/File:Ergrundung_Ritterlicher_Kunst_der_Fechterey_1516_title.jpg.
Abb. 03:  Stadtansicht von Wittenberg um 1536 abgerufen am 16.09.2024 auf https://www.sachsen-anhalt-lese.de/vorgestellt/staedte-und-gemeinden/lutherstadt-wittenberg/.
Abb. 04: Johann Andreas Schmidt: Leib-beschirmende und Feinden Trotz-bietende Fecht-Kunst, Nürnberg, 1713, Titelbild.
Abb. 05: Roux, Friedrich August Wilhelm Ludwig: Die Kreussler'sche Stossfechtschule, Jena 1849, Titelbild. 
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